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SCHELKLINGEN - Sieben Jahre lang in der Hölle
Helmut Klotzbücher hat in den 50er und 60er Jahren im Schelklinger St. Konradihaus Schreckliches erlebt. Die jetzt angekündigte Entschädigung für Heimkinder empfindet er angesichts des Erlittenen als Hohn.
BERNHARD RAIDT | 20.12.2010
Die Jahre von 1954 bis 1961 waren für Helmut Klotzbücher ein fortwährender Albtraum. Er lebte damals im St. Konradihaus in Schelklingen: Zu den Erziehungsmethoden in dem katholischen Kinderheim gehörten damals Prügel und Misshandlung. Der 70-jährige Klotzbücher lebt heute in Singen am Hohentwiel und engagiert sich im Verein ehemaliger Heimkinder. Die jetzt vereinbarte Entschädigung, die er und zig tausende misshandelte Heimkinder bekommen sollen, empfindet er als Hohn angesichts des erlittenen Leids.
Er sei ins St. Konradihaus nach der Scheidung seiner Eltern vom Jugendamt eingewiesen worden, berichtet Helmut Klotzbücher. Ein Priester habe das Heim damals geleitet, Nonnen aus Untermarchtal arbeiteten dort. Gleich nach seiner Ankunft habe er sich nackt ausziehen müssen, sei in die Dusche geschickt und mit einem "erbärmlich stinkenden" Desinfektionsmittel überschüttet worden. Die Haare kamen ab. "Damit sollten die Parasiten, die angeblich an mir klebten, abfallen."
Im Heim herrschten strenge Regeln: Um 6 Uhr Wecken, Frühstück, danach ging es in die Kapelle zum Gebet. In Viererreihen mussten sich die Kinder und Jugendlichen anschließend auf dem Hof zum Appell aufstellen. "Die kräftigsten Burschen wurden von Firmenvertretern aus der Umgebung ausgesucht und arbeiteten auf dem Bauernhof, in der Schlachterei oder auf dem Bau." Die anderen Kinder mussten sich in der Gärtnerei, dem Hofgut oder den Werkstätten des Konradihauses zur Arbeit melden.
"An die täglichen Gemeinheiten konnte ich mich nicht gewöhnen", sagt Klotzbücher. Durch die vielen Prügelstrafen sei er mit der Zeit zum Bettnässer geworden. "Die Heimleitung war der Meinung, dass ich das absichtlich mache." Er sei deshalb nach Tübingen in die Nervenklinik überwiesen worden. Dort wurde ihm gesagt, dass ein neues Verfahren bei ihm angewendet werden würde: Er sei an ein Eisenbett gefesselt worden und habe eine Spritze in den Rücken bekommen. Auf einem Tisch neben dem Bett stand ein rechteckiger Kasten, aus dem Drähte mit Klemmvorrichtungen ragten.
Erst als der Universitäts-Dozent Dr. K. ihm die Drähte an Glied und Hoden befestigte und den Drehknopf betätigte, sei ihm klar geworden, was mit ihm geschah. Mit Elektroschocks sollte das "Leiden", das Bettnässen, geheilt werden. "Meine Schreie verhallten in dem schalldichten Zimmer", berichtet Klotzbücher. Fünf Stunden war er anschließend bewusstlos.
"Als ich aufwachte, dachte ich, mein Unterleib wäre nicht mehr vorhanden." Am nächsten Tag besprachen die Ärzte die Wirkung des Elektrogeräts. "Ich kam mir vor wie ein Studienobjekt, ich dachte, dass ich Tübingen nur noch im Sarg verlassen würde", sagt das ehemalige Heimkind. Da er nach ein paar Tagen nicht mehr einnässte, waren die Doktoren überzeugt, das Problem mit ihrer Behandlung behoben zu haben. "Doch kurz vor der Entlassung nässte ich wieder ein", schildert Klotzbücher. Die Tortur begann von Neuem. "Sie dachten, dass die Elektroschübe zu niedrig waren." Kein Mensch könne sich vorstellen, was er dann erlebt habe. "Ich hatte das Gefühl, in mir explodiert eine Bombe." Zum Glück sei er bewusstlos geworden. Erst nach und nach habe er ins Leben zurückgefunden. Zum Abschluss habe Dr. K. ein Gutachten erstellt. "Seiner Meinung nach war ich eine geschädigte, unterdurchschnittlich intelligente, ungenügend gesteuerte Persönlichkeit", sagt Klotzbücher.
Zurück in Schelklingen, sei er aufgrund des Gutachtens "wie ein Schwachsinniger" behandelt worden. Die Meister der Werkstätten hätten im Laufe der Zeit die brutalen Methoden der Nonnen übernommen. Einer habe derart zugeschlagen, dass "wir durch den ganzen Raum flogen, wenn wir eine Ohrfeige erhielten", erzählt Klotzbücher. Er sei zum Straßenbau und zum Kabellegen im Steinbruch des Zementwerks Schelklingen geschickt worden. "Eine Schufterei ohne Ende."
Eines Tages habe er, kurz vor seinem 17. Geburtstag, einen Fluchtversuch gewagt. Dabei sei er mit einem Fuß unter einen der Wagen geraten, die auf Schienen das Gestein zum Zementwerk transportierten. "Als ich im Krankenhaus aufwachte, traf mich der Schock - mein rechtes Bein war nicht mehr da", schildert Klotzbücher. Nach mehreren Operationen kam er zurück ins Konradihaus - und erhielt nach eigenen Angaben Prügel vom Heimleiter, weil er "Schande über das Heim" gebracht habe. Es sei zu Streitereien gekommen, wer für den Unfall und die Rente zahlen müsse. "Wir waren ja nicht angemeldet, heute würde man Schwarzarbeit dazu sagen", sagt Klotzbücher. Schließlich habe die Bauberufsgenossenschaft nach langen Verhandlungen gezahlt. "Die Rente wurde aber vom Landesfürsorgeverband für die Heimunterbringung kassiert." Sein Vater habe monatlich 60 Mark ans Heim gezahlt. Insgesamt habe die Fürsorge damit monatlich 175,50 Mark nach dem Unfall für seine Unterbringung kassiert. "Das war viel Geld." Klotzbücher schätzt, dass seine Unterbringung im Heim täglich 2,50 Mark kostete. "Von der Rente und meinem Lohn habe ich bis heute nichts gesehen."
Trotz des fehlenden Beins gingen die Strafen weiter. "Für Kleinigkeiten wurde man mit Essensentzug und Prügeln bestraft." Besonders schlimm sei es gewesen, wenn man Erbrochene habe essen müssen. Und die Strafduschen: Selbst im Winter mussten die Zöglinge laut Klotzbücher eine oder mehrere Stunden unter einem kalten Wasserstrahl ausharren.
1959 habe er erstmals eine Prothese bekommen. "Es war toll, wieder auf zwei Beinen zu stehen", erzählt der 70-Jährige. "Aber wenn ich gegen die Hausordnung verstieß, kam die Gruppenschwester und nahm mir die Prothese ab." Das sei neben den Prügeln die schlimmste Strafe gewesen.
"Mein Vater hat alles versucht, mich aus dieser Hölle herauszuholen." Fast jede Woche habe er an das Fürsorgeamt geschrieben und um die Entlassung seines Sohnes gebeten. "Aus den Akten habe ich später erfahren, dass man in meinem Vater eine Gefahr für mich und mein späteres Leben sah", erzählt Klotzbücher. Er selbst habe seinen Vater einige Male vor dem Heim stehen sehen. "Man hat ihn nie zu mir gelassen." Auch die vielen Briefe des Vaters seien nie bei ihm angekommen. "Das tut mir heute noch weh, denn mein Vater starb kurz vor meiner Entlassung."
Die Schwierigkeiten hörten auch nach der Entlassung nicht auf. "Jeder wollte wissen, wo ich von 1954 bis 1960 gearbeitet habe", sagt Klotzbücher. Dass er ein Heimkind war, durfte niemand wissen. Heute lebe er von einer geringen Rente. Immer wieder sei er umgezogen, die Vergangenheit lasse ihn nie los. Noch heute, 50 Jahre später, träume er von einer Ordensschwester: Die sei schon älter, klein und boshaft gewesen - "wie der Satan".
BERNHARD RAIDT 20.12.2010
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